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Musik & Theater, 02/2003
Von Rock zu Mozart
Er hat auf allen fünf Kontinenten gastiert. Dennoch zieht es Matthias Kirschnereit
mit besonderer Regelmäßigkeit nach Bamberg, und das mit gutem Grund:
Hier, mit den Bamberger Symphonikern, realisiert er eine CD-Gesamtaufnahme der
Mozart-Klavierkonzerte.
?...Was genau sind, wenn es sie wirklich
gibt, Mozart-Pianisten?
Matthias Kirschnereit: Eine sehr gute Frage
und schwierig zu beantworten. Bei den Sängern, denke ich, ist alles viel
stärker kategorisiert. Für jedes Fach, ja für jeden Komponisten
gibt es einen bestimmten Sängertypus, vom Bach-Sänger bis zum Strauss-Spezialisten.
Entsprechend wissen wir auch ziemlich genau, was einen Mozart-Sänger ausmacht.
Beim Klavier ist das anders; von allen Instrumenten ist das Klavier das unpersönlichste.
Traurig, aber wahr: Somit besteht für den Pianisten die Kunst darin, das
Klavier so zu formen, dass es unter seinen Händen zu einem ungewöhnlich
persönlichen und charakteristischen Instrument wird. Und genau darin zeigen
sich wiederum seine unvergleichlichen Stärken: Das Klavier ist das tollste
Instrument. (lacht)
?...Gibt es auf dem Klavier einen speziellen
Mozart-Klang?
Matthias Kirschnereit: Grundsätzlich
denke ich, dass ein Mozart-Pianist eine ungemein große Lebendigkeit in
sich fühlen sollte, eine Freude am spontanen Ausdruck, und er sollte die
Musik als etwas Sprechendes empfinden. Mein Klangideal ist eher hell, sehr obertonreich
timbriert, und ich pedalisiere sehr zurückhaltend. Das soll aber nicht
heissen, dass Mozart nicht dann und wann unvermittelt in ganz düstere Klangwelten
abdriftet und dann plötzlich schroff und dramatisch wird.
... Atmen heißt für den Mozart-Pianisten, dass man Phrasen baut,
dass man eine Frage stellt und anschließend eine Antwort gibt. So wie
es bei Goethe im „West-östlichen Divan“ heißt: ‚Im
Atemholen sind zweierlei Gnaden: die Luft einziehen, sich ihrer entladen; jenes
bedrängt, dieses erfrischt; so wunderbar ist das Leben gemischt.’
Solche Phrasen können auf engerem Raum zustande kommen, in zwei, vier oder
acht Takten. Ebenso wichtig für einen Mozart-Pianisten ist, dass er emotional
schnell umschalten kann. Mozart ist unter anderem gerade deshalb so unfassbar,
weil ihm ständig neue Gedanken kommen. Als Interpret muss man in der Lage
sein, auf solche Veränderungen zu reagieren und ihren Sinn mit Ausdruck
zu erfüllen. Mozart lässt sich nicht erzwingen.
?...Genau darin dürfte die Gefahr für
jede Mozart-Interpretation liegen...
Matthias Kirschnereit: ... sobald es zu
gewollt ist. Sicher, man muss sich festlegen, vor allem bei den Klavierkonzerten,
in der Zusammenarbeit mit dem Orchester. Aber man kann das Festgelegte nachher
nicht erzwingen. Mozart muss absichtslos klingen, aus einer spontanen Lust heraus.
Bei Mozart – übrigens auch bei Schubert – habe ich das Gefühl,
dass es direkt von oben kommt. Mir geht diese Musik jedenfalls direkt ins Herz,
und genau so sollte durch mein Spiel der Zuhörer unmittelbar getroffen
und ergriffen werden.
...In jeder CD-Produktion steht man unter einem kolossalen Zeitdruck. In wenigen
Stunden muss ein Optimum an Aussage und Leistung erbracht werden. Insofern entschied
ich mich für einen Dirigenten nach meiner Wahl: Frank Beermann, den ich
seit meinem Studium kenne und mit dem ich schon oft Mozart gemacht habe. Lange
vor den Aufnahmen treffen wir uns, leisten Vorarbeit, legen die Interpretation
im Wesentlichen fest, so dass wir bei den Aufnahmen gemeinsam an demselben Strang
ziehen.
?...Bei gewissen Klavierkonzerten hat Mozart
den Solopart nicht Note für Note ausgeschrieben; der Pianist müsste
– nach eigenem Gutdünken und nach Maßgabe der historischen
Aufführungspraxis – Verzierungen, Läufe oder gar Variationen
hinzufügen. Wie halten Sie es damit?
Matthias Kirschnereit: Nehmen Sie als Beispiel
das Rondo KV 382 für Klavier und Orchester; Track eins auf meiner ersten
Mozart-CD. Ich fände es geradezu fantasielos, dieses schlichte Kinderliedthema
wortwörtlich eins zu eines zu wiederholen. Also habe ich mir bestimmte
Variationen ausgedacht, denn zu Mozarts Zeiten - und darin tritt der historische
Aspekt zutage – spielt das improvisatorische Moment eine ganz große
Rolle. Jedenfalls bei Werken, die er für den eigenen Gebrauch schrieb.
Interessant ist nämlich die Gegenprobe, beispielsweise das Klavierkonzert
KV 271, das er für eine gewisse Madame Jeunehomme komponierte. Hier ist
jede Artikulation, jeder Akkord in der linken Hand peinlich genau ausgeschrieben.
?...Ein ähnliches Problem stellt sich
dem Mozart-Pianisten bekanntlich bei den Kadenzen. Soll er eigene beisteuern?
Soll er auf Mozart zurückgreifen? Oder gar auf Beethoven?
MK: Je nachdem. Wo Mozart eigene Kadenzen hinterlassen hat, dort spiele ich
sie auch. Und wenn er, wie beispielsweise bei den frühen Klavierkonzerten,
nur wenige Takte Solokadenz hingekritzelt hat, dann erlaube ich mir, diese Kadenzen
zu erweitern oder sogar eigene zu schreiben.. Beim d-Moll-Konzert KV 466 spiele
ich selbstverständlich die Beethoven-Kadenzen; die sind wie ein Monolith
und überhöhen und erweitern das Ganze ungemein.
?Sie waren unter anderem Preisträger im renommierten Concours Géza
Anda in Zürich. Sind solche Wettbewerbe nicht etwas eminent Kunstfeindliches?
Dieser Kampf um Bestleistungen, um Bestnoten – den gibt es doch nur
im Sport.
Matthias Kirschnereit: Ich stimme Ihnen
voll zu. Wettbewerbe in der Musik zu veranstalten und einen Besten zu küren
ist eine äußerst problematische Sache. Wir haben zahhlose Beispiele,
wo die Sieger aufgrund des Drucks interner Jury-Politik gekürt werden.
Umgekehrt gibt es in der Tat viele wunderbare Musiker, die in einem Wettbewerb
entdeckt wurden.
?...War das bei Ihnen der Fall?
Matthias Kirschnereit: Nicht in einschneidender
Weise, aber das liegt wahrscheinlich in meinem künstlerischen Werdegang
schlechthin, dass sich die Dinge ruhig und mit einer bedächtigen Stetigkeit
entwickeln.
?...Wann wurde Ihnen eigentlich klar,
dass aus dem Klavierspielen ein Beruf werden wird?
Matthias Kirschnereit: Eine dramatische
Wende gab’s nicht; auch kein entsprechendes Konzerterlebnis, wo man
beispielsweise noch den alten Wilhelm Kempff gehört und sich nachher
gesagt hätte: Genau das will ich auch machen. Ich lebte in dieser Zeit
in Namibia; wir waren gewissermaßen in der kulturellen Wüste. Und
am liebsten wollte ich damals Rockmusiker werden. Besessen eiferte ich den
Deep Purple nach, denn hier konnte ich mich mit meinen pubertären Gefühlen
wesentlich besser einbringen als bei Brahms oder Mozart.
?...Warum hat es mit dem Rockmusiker nicht
geklappt?
Matthias Kirschnereit: Weil wir in Kapstadt
keinen Verstärker bekamen. (lacht). Gleichzeitig begann in mir dieser
Pianistenwunsch zu keimen. Und da Namibia nicht das geeignete Land war, um
eine solide Ausbildung zu erhalten, zog ich mit vierzehn von zuhause weg nach
Deutschland. Zuerst hatte ich ein Schockerlebnis, als ich sah, was meine Alterskollegen
bereits drauf hatten an Repertoire, an technischen Möglichkeiten sowie
an Konzerterfahrung. Mit 16 ging ich dann – unter einem rechten Skandalgewitter
– von der Schule, um mich ganz der Musikausbildung zu widmen. Ich bin
auf einen späten Zug aufgestiegen, und gewisse Dinge dauern in meiner
Karriere vielleicht auch entsprechend länger. Aber ich bin ungemein zufrieden
damit, weil ich spüre, dass es immer weitergeht. Ich lebe in einer Art
von Crescendo und hoffe, dass die Richterskala nach oben offen ist.
(Werner Pfister & Andrea Meuli)
Rondo Magazin
Durch die Wüste
Wenn der Pianist Matthias Kirschnereit von der Wüste Namibias
erzählt, leuchten seine Augen.
?...Herr Kirschnereit, vom westfälischen
Dorsten, wo Sie 1962 geboren wurden, nach Namibia und zurück nach Deutschland,
nach Detmold. Wie ging das?
Matthias Kirschnereit: Tja, was für
Brüche! Mein Vater ging in den Siebzigern als Gemeindepastor nach Namibia,
das ja früher eine deutsche Kolonie war und immer noch eine große
deutsche Gemeinde hat. Nach einem Jahr wurde er zum überregionalen Bischof
dort gewählt. Er war dann für das ganze Land zuständig, das
immerhin zweieinhalbmal so groß wie Deutschland ist. Wir waren sehr
viel unterwegs, weil er auf den Gottesdiensten präsent sein musste und
die Gemeinden betreute. Für einen Jungen war es ein tolles Erlebnis durch
die Wüste zu fahren!
?... Was haben Sie sich vom Leben dort
bewahrt?
Matthias Kirschnereit:Eine große
Naturverbundenheit und einen großen Sinn für weite Landschaften.
Es war politisch eine sehr unangenehme Zeit, als wir da waren: Namibia stand
unter dem Protektorat Südafrikas und es galten Apartheid-Gesetze. Da
Namibia aber viel fortschrittlicher war als andere Länder dort, hat man
vieles noch vor der Unabhängigkeitserklärung aufgehoben.
?... Sind Sie in gefährliche Situationen
geraten?
Matthias Kirschnereit:Nein. Es gab drei
Gruppen von Weißen: die Buren, die Engländer und die Deutschen,
und das verhasste Regime war das Südafrika-Regime. Ich hatte den Eindruck,
dass die Engländer und Deutschen von der schwarzen Bevölkerung gut
behandelt wurden. Schwieriger war es wohl für die Buren, die unmittelbar
das System repräsentierten. Mein Vater war als Pastor in einer Respektsfunktion:
er war gleichsam Standesbeamter, Krisenmanager bei familiären Konflikten
wie Trennungen und Nachbarsstreitigkeiten oder anderes. Meine Eltern hatten
viele Freunde und waren sehr respektiert; zudem war das Klima sehr gesund,
sehr trocken.
?...Mit vierzehn haben Sie Namibia alleine
verlassen und sind nach Detmold an die Musikhochschule gegangen. War das ein
Kulturschock?
Matthias Kirschnereit: Ja. Von der heißen
trockenen Wüste in eine ostwestfälische Kleinstadt, vom Teutoburger
Wald und einer sagenhaften Idylle umgeben. Rückblickend war das ein gewagter
Schritt. Ich kam nach Detmold und hatte dort meine schockierenden Erlebnisse,
was meine Klavierkünste anbelangt. Ich hatte ja in Namibia überhaupt
keine Maßstäbe, woher sollte ich wissen, wo die internationale
Messlatte liegt? Dort war man der Star.
?... Und ein Intellektueller, wenn man
mal zwei Bücher liest ...
Matthias Kirschnereit: Jaja, so ist das
dort. (lacht) Aber ich war auch in Namibia ein Außenseiter, der Kunst
sehr zugetan, über die Dinge des Lebens nachdenkend. In meiner Schule
schien es nur Sonnyboys mit braungegerbter Haut zu geben, die viel Spaß
hatten, Bier tranken und die Muskeln spielen ließen. Ich habe sie immer
ein bisschen darum beneidet, dass bei ihnen alles so glatt zu gehen schien.
Die Sehnsucht nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit, wie Thomas Mann das
ausdrückt.
?... In Detmold waren Sie ganz auf sich
allein gestellt ...
Matthias Kirschnereit: Ich hatte das große
Glück zu einer Klavierlehrerin zu kommen, die wie eine Mutter zu mir
war - ich war ja erst vierzehn. Und ich musste sehr viel nachlernen. Es gibt
in unserem Beruf natürliche Grenzen: In einem bestimmten Alter müssen
die Gehirnschaltungen freigeschaltet sein, die Reflexe müssen einigermaßen
konditioniert und der Vertrauensfaktor muss stabilsiert sein. Man kann nicht
mit fünfundzwanzig anfangen ein Klavierkonzert zu spielen und dieser
unglaublichen Erwartungshaltung des Publikums begegnen. Als Kind geht man
unbefangen rein, mit sechzehn fängt man an, sehr stark darüber zu
reflektieren und dann kommt ja meistens auch ein Bruch in der Persönlichkeit.
Ich hatte mir durch meine Jugend in Namibia diese natürliche Unschuld
erhalten, insofern war dies ein Vorteil. Und ich hatte nie diesen Wunderkindnimbus.
Sie kennen bestimmt diesen schönen Satz von Claudio Arrau: "Die
Gunst des Publikums sinkt mit dem Längerwerden der Hosen."
?...Mit sechzehn haben Sie die Schule
verlassen, um sich ganz der Musik zu widmen ...
Matthias Kirschnereit: Ja, die ganze Schule
war entsetzt. Und ein Lehrer sagte: "Solche Leute kennen wir, der wird
später Klavierlehrer in Hintertupfingen."
?... Haben Sie ihn zu Ihrem ersten Konzert
eingeladen?
Matthias Kirschnereit: Der hat erstaunlicherweise
meinen Werdegang verfolgt, denn dann stellten sich die ersten Erfolge, ersten
Preise ein, und sie haben sich in gewisser Hinsicht auch entschuldigt. Es
waren ja alles völlig berechtigte Gedanken, aus einem sehr deutschen,
bürgerlichen Sicherheitsdenken entsprungen - verständlich, solide
und richtig, aber, wie soll ich sagen, "eng".
Ich habe durch meine Zeit in Afrika einen anderen Horizont, selbst wenn es
keine besonders Klavier- oder Kunst-orientierte Zeit war. Ich habe vor allem
auf den vielen Reisen ein ganz anderes Lebensgefühl kennen gelernt, habe
Menschen unter sehr einfachen Bedinungen erlebt, die dennoch überlebt
haben. Die Sorgen und Nöte der Menschen, wenn es etwa nicht geregnet
hatte, waren mit Händen zu fassen. Hier in Deutschland ist es oft nur
wichtig, dass man ein schickes Auto hat, eine Wohnung mit Parkett und abends
tolle italienische Weine trinken kann. Bestimmte hochgezüchtete Probleme
unserer modernen Wohlstandgesellschaft kann ich nicht begreifen.
?... Sie wirken sehr reflektiert in Ihren
Aussagen. Kann der Intellekt der Intuition beim Musizieren ein Schnippchen
schlagen?
Matthias Kirschnereit: Mein Zugang zur
Musik ist rein intuitiv, doch ich gebe zu, durch das viele Sich-Absichern
beim Einstudieren von Partituren geht ein bisschen die Frische und Natürlichkeit
verloren. Ich würde mich nicht als Intellektuellen bezeichnen, aber ich
spreche mit Kollegen gerne über Musik, was sehr anregend sein kann.
?... Oft geben Interpreten über Musik
nur Banalitäten von sich. Kann man über Musik überhaupt etwas
Kluges sagen?
Matthias Kirschnereit: Ich will gar nicht
behaupten, dass es klug ist, was ich jetzt sagen werde. Wir sind uns einig,
dass Musik schön ist, dass Mozart ein Genie und Bach der Gott ist. Was
mich mehr beeindruckt, ist der menschliche Aspekt. Ich versuche über
Musik zu sprechen, aber nicht auf eine belehrende oder analytische Art, etwa
über Struktur, Periode oder Aufbau oder die Schenkersche Urlinie.
?... Was sagen Sie zu Mozart, dessen Klavierkonzerte
Sie komplett aufnehmen?
Matthias Kirschnereit: Mozart ist in gewisser
Hinsicht abstrakt, obwohl zu jeder Zeit sehr menschlich und voller Gestik.
Aber wenn man Mozart zu konkret macht, wie etwa bei Beethoven - also das Drama,
das Pathos, der Glaube an den Menschen oder das Schicksal herausstreicht -,
dann entzieht er sich und platzt wie eine Luftblase. Bei Mozart interessiert
mich die Geste eines Themas. Ich frage mich: Was passiert, wenn ich sie mit
einem Text unterlegen würde, wie ihr Charakter ist? So versuche ich,
eine klare psychlogisch-emotionale Terminologie für Mozarts Werke zu
finden.
Teresa Pieschacón Raphael
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